„MOMENTUM zu tanzen ist wie eine Droge“


by Patricia Knebel

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Porträt

„MOMENTUM zu tanzen ist wie eine Droge“

Das Bonner Ensemble CocoonDance ist mit MOMENTUM zur Tanzplattform eingeladen. Bloggerin Patricia Knebel hat bei Proben zu einer MOMENTUM -Adaption zugeschaut und mit CocoonDance über Extremsituationen, Impulse und Zuschauer als Akteure gesprochen.

Von Patricia Knebel
 

Drei männliche Tänzer bewegen sich rhythmisch zu den eindringlichen Klängen lauter Techno-Musik, verlassen kaum den Bereich des Bodens. Ihre Bewegungen steigern sich, werden dringlicher, ekstatisch, bis hin zum absoluten Erschöpfungszustand der Performer. Der wiederum ruft neue Bewegungen hervor. Im Englischen bezeichnet „Momentum“ die physikalische Größe „Impuls” – eine Einheit, die die Bewegung eines Objektes beschreibt. Im Tanz ist „Momentum” ein fast schon inflationär gebrauchter Begriff: Jeder kennt ihn, jeder benutzt ihn. Er beschreibt den Zustand, den man erreichen muss, um eine physische, tänzerische Aktion auszulösen: der perfekte Moment – essentiell wichtig, aber unmöglich zu kontrollieren.

Das zur Tanzplattform 2018 eingeladene Stück MOMENTUM der CocoonDance Company ist entsprechend eine improvisierte Choreografie. Sie basiert auf den Bewegungsabläufen und Techniken eines Parcour-Sportlers. „Parcour” meint eine Fortbewegungsart, bei der der ausführende „Traceur” Hindernisse im Stadt- oder Naturraum nur mit Hilfe des eigenen Körpers und eigener Körperkraft überwindet. Die Kunst der Traceurs hat Choreografin Rafaële Giovanola schon lange interessiert. Bei einer Residenz in der Schweiz ergab sich die Chance, drei Wochen lang mit dem Traceur Frédéric Voeffray zusammenzuarbeiten. Aus dessen Bewegungsmustern entwickelte sie einzelne, tänzerische „Tasks” (Aufgaben), die die Grundlage des späteren Stückes MOMENTUM bildeten.

Gender-Klischee oder Natur der Sache?

„Parcour“ wird meistens von Männern betrieben, findet im Stadtraum statt und wird deshalb der Street-Art, einer eher männlich, als weiblich konnotierten, künstlerischen Ausdrucksform zugeordnet. Dann ist MOMENTUM quasi naturgemäß ein Stück für ein Männertrio? Oder ist das bloß ein Klischee? „Die Frage, MOMENTUM wegen seines Inhalts ausschließlich mit Männern zu besetzen, hat sich uns gar nicht gestellt. Aber wir haben im Ensemble drei Tänzer, die extrem gut miteinander harmonieren und für die wir schon immer ein Stück machen wollten. MOMENTUM war dafür gewissermaßen prädestiniert”, sagt Rafaële Giovanola. 
Das Stück passt zwar zu den drei Tänzern wie ein maßgeschneiderter Schuh, aber MOMENTUM ist keinesfalls unaufführbar für Frauen. Deutlich wird das beim Format MOMENTUM xsamples, bei dem CocoonDance mit verschiedensten Menschen zusammenarbeitet, zum Beispiel mit Frauen, Kindern oder Geflüchteten. Jedes mal entsteht ein neues, individuelles Stück. Die Tasks seien so einfach, erklärt Rafaële, dass man mit ihnen in schnellster Zeit eine neue Choreografie entwickeln könne, und das zusammen mit Profis genauso gut wie mit Hobbytänzern oder absoluten Tanz-Laien. CocoonDance kreiert also nicht nur Stücke, die einen künstlerischen Wert besitzen, sondern welche, die zusätzlich Menschen zueinanderbringen. „MOMENTUM xsamples steht für eine starke Vernetzungsarbeit, die uns sehr am Herzen liegt”, erklärt CocoonDance-Dramaturg Rainald Endraß. „Dabei geht es nicht um die Vernetzung von Institutionen, sondern um die Vernetzung von Körpern: neue Körperbilder und Praktiken entstehen.“ CocoonDance möchte den Tanz in die Welt tragen und auch außerhalb der professionellen Szene den Spaß an Bewegung vermitteln.

Energie durch völlige Erschöpfung

Bei einer Probe von MOMENTUM xsamples für die „6. Biennale Tanzausbildung“ Ende Februar darf ich zuschauen und erleben, welch körperliche Höchstleistungen dieses Stück für die acht Studentinnen des Studiengangs Tanz im Zentrum für Zeitgenössischen Tanz in Köln (er-)fordert. 20 Minuten lang bewegen sich die jungen Tänzerinnen in rhythmischen Bewegungsloops, einen Moment des Innehaltens gibt es nicht. „Das sieht wirklich toll aus!”, rufe ich am Ende einer Tänzerin zu. „Und ist auch wahnsinnig anstrengend!”, erwidert sie. Ich kann es sehen, das Gesicht ist rot vor körperlicher Verausgabung, der Schweiß läuft, die Atmung ist intensiv. Dieses MOMENTUM xsample dauert nur halb so lange wie sein Original für das Männertrio. „Als wir mit den Proben angefangen haben, waren die drei Tänzer sehr schnell erschöpft und haben gefragt, wie lange sie denn nun schon durchgehalten hätten – dabei waren es nur 15 Minuten”, lacht Rafaële Giovanola. „Nach einiger Zeit haben sie sich natürlich daran gewöhnt und jetzt können wir sagen: So fit waren sie noch nie! Aber trotzdem wissen sie bei einer Vorstellung nie, ob ihre Kräfte bis zum Ende reichen werden. Diese anhaltende Nervosität generiert neue Energie. MOMENTUM zu tanzen ist wie eine Droge.” 
Das Stück ist das Gegenteil vom klassischen Ballett, das den schönen, unbeschwerten Körper inszeniert. Bei MOMENTUM sieht das Publikum Körper, die an ihre Grenzen stoßen, die nicht mehr können, denen es dann aber trotzdem immer wieder gelingt, diese Grenzen zu überwinden. „Auch das Publikum ist wie ’high’“, berichtet Rainald Endraß. „Die Zuschauer geben ihre Energie an die Tänzer ab, und die brauchen das. Ohne Publikum würde das Stück also gar nicht funktionieren.“ 


MOMENTUM aktiviert den Zuschauer, lässt ihn zum Mitwirkenden werden. Das merke ich am eigenen Körper während des Probenbesuches von MOMENTUM xsamples. Ich komme aus dem Kopfnicken gar nicht mehr raus, fühle mich allein durchs Zuschauen erschöpft und ausgelaugt. „Die Tänzerinnen aus unserer Company sind ein bisschen traurig, dass gerade dieses Stück für ein Männer-Trio zur Tanzplattform eingeladen wurde”, gibt Rafaële schmunzelnd zu, „aber wir sind schon dran, ein ähnliches Stück für sie zu machen.” Vis Motrix setzt sich wie MOMENTUM mit getanzter und unmittelbar erfahrbarer Körperlichkeit auseinander (Aufführungen am 2. bis 4. und 8. bis 10. März Theater im Ballsaal, Bonn und am 13. + 14. März im Orangerie-Theater, Köln). 

Dass eines ihrer Stücke zur Tanzplattform eingeladen wurde, empfindet CocoonDance als außerordentliche Wertschätzung ihrer Arbeit. Dabei verstehen sie MOMENTUM als stellvertretend für die Entwicklung ihrer Company, die Auszeichnung gilt also nicht nur den drei männlichen Akteuren des Stückes, sondern den langjährigen Teammitgliedern von CocoonDance und ihrer künstlerischen Arbeit. Daher sind auch ausdrücklich alle Tänzerinnen und Tänzer zur Tanzplattform nach Essen eingeladen, um gemeinsam auch diese Erfahrung zu teilen.