Lust am Raumgreifen

Kategorie
Kritik

Lust am Raumgreifen

Ligia Lewis wurde mit „minor matter“ zur Tanzplattform eingeladen. Es ist der zweite Teil ihrer Trilogie „BLUE/RED/WHITE“. Die Farbe Rot und mit ihr Emotionen wie Aggression, Verlangen und Lust stehen im Fokus. Blogger Matthias van den Höfel ließ sich verwirren, abstoßen und euphorisieren von einer Unbändigkeit des Willens.

 

Von Matthias van den Höfel

Eine klassische Aufführungssituation muss in „minor matter" erst erkämpft werden. Ein großer Kraftakt ist nötig für die Performer*innen, um überhaupt aus der Bühne so weit hervorzutreten, dass sie tatsächlich vom Publikum wahrgenommen werden können. Im Bühnennebel und im nur sehr langsam heller werdenden Bühnenlicht sind sie zunächst gar nicht, dann bloß als Schemen zu erkennen, die ich zuerst für Stühle halte; als Performer*innen identifiziere ich sie erst, als sie anfangen, sich in Bewegung zu setzen und so den Raum, die Aufmerksamkeit einzufordern.

Dieses Einfordern beginnt mit heroischen Posen und Bewegungen, sie erinnern an Darstellungen antiker Athleten. Begleitet von einem Soundtrack, der Elemente spätmittelalterlicher Tanz- und neuzeitlicher Kunstmusik mit elektronischen Beats mischt, werden die Bewegungen ausgreifender, dynamischer, die Posen wechseln schneller. Immer wieder tauchen Elemente auf, die an militärischen Drill erinnern, an Kriegstänze, an Street Dance, an Cheerleading, an Ringkampf, um gleich wieder zu verschwinden oder in das nächste Element überzugehen, alles durchzogen vom immer erkennbaren Willen, sich Raum zu verschaffen, immer mehr Raum; sich diesem Raum aufzuprägen, sich kraftvoll und stolz in diesem Raum zu präsentieren.

In einem Monolog wird dieser Gestaltungswille, diese Lust am Raumgreifen weiter reflektiert: Um den Willen zur Leistung geht es, um Disziplin, um die ständige Arbeit an sich selbst, um den ständigen Willen zum Noch-mehr, Noch-besser. Die Unbändigkeit dieses Willens, dieser Lust, sich der Welt zu stellen, sich ihr aufzuprägen, wirkt manchmal bedrängend und fast abstoßend, dann wieder euphorisierend. Auch die Performer*innen wirken berauscht von ihrer Selbstanfeuerung, von ihrem Willen zu Präsenz und Leistung und immer weiterer Steigerung.

Fragil, verletzt und fiebrig

Auf einmal bricht all das auf; in einem weiteren Monolog wird die Erfahrung von Leere und Langeweile thematisiert, von scheiternden Beziehungen zu anderen. Bald liegen die Performer*innen auf dem Boden, und nun zeigt sich ganz direkt die Farbe Rot, die laut Programmheft im Zentrum dieser Choreographie stehen soll. Präsent war sie von Anfang an in den Emotionen, die in den Bewegungen, der Mimik, den Haltungen der Performer*innen steckten: Aggression, Verlangen, Lust. Nun durchziehen die Bühne rote, vom Bühnennebel reflektierte Laserstrahlen, auch das Bühnenlicht von oben ist rot. Es zeigt sich die andere, die Schattenseite dieser Farbe: So durchzogen ist die Bühne, die Welt vom aggressiven Rot des im ersten Teil demonstrierten Eroberungswillens, dass sie niederdrücken und verletzen, leer und einsam machen kann. In abwechselnden, mal aufs Nötigste beschränkten, mal geradezu verzweifelt raumgreifenden Bewegungen suchen die Performer*innen langsam die gegenseitige Nähe, bis sie sich schließlich ineinander verschränken, sich als Einheit über den Boden bewegen und sich dann gemeinsam und aneinander aufrichten. Fragil wirken sie hier, verletzt, fiebrig und voller Sehnsucht.

Ein neuer Tanz beginnt, er ist nicht mehr geprägt vom schnellen Wechsel, von Andeutungen überkommener Formen, sondern von Bewegungen, die mehr aus dem Moment, mehr aus den Performer*innen selbst entstehen; neu gefestigt erscheinen sie, mit einer neuen Selbstgewissheit erobern sie sich die Bühne tanzend zurück. Dabei geraten sie jetzt aneinander. Sie deuten Auseinandersetzungen an, die nicht mehr bloß sportlich sind, sondern immer aggressiver werden. Explizit sexuelle Momente treten hinzu, auch sie meist in gewalttätiger Ausprägung. Denkt man die einzelnen Abschnitte von „minor matter“ als aufeinander aufbauend, so scheint es, als würde aus der Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit und Bedürftigkeit der Wunsch und Drang erwachsen, andere zu verletzen; als würde aus der Erfahrung eigenen Leids ein neuer, sadistischer Wille zur Dominanz entstehen.

Spielerische Welteroberung

Es folgt ein letzter Teil, er bricht mit den anderen. Und er stellt ein Fragezeichen hinter die Interpretation der aufeinander aufbauenden Teile. Leicht und spielerisch und begleitet von lockeren Gesprächen starten die Performer*innen immer neue Experimente mit den Möglichkeiten des Bühnenraums und den Möglichkeiten ihrer Körper; sie wirken wie Jugendliche, die sich immer neue Mutproben stellen. In diesen Mutproben, in diesem spielerischen Erobern der Welt, in diesem Austesten und Überschreiten der eigenen Grenzen sind all die Momente angelegt, die wir vorher schon gesehen haben: Die Lust, sich die Welt zu erobern, die Lust, andere herauszufordern, sie vielleicht scheitern oder verletzt zu sehen, sie zu übertrumpfen; aber auch: das gegenseitige Stützen, das gemeinsame Erleben und Selbstbehaupten, die Möglichkeit des Selbst-verletzt-Werdens, die Angst vor dem eigenen Scheitern. So könnte das Ende eher der Anfang sein: Hier, wo noch alles spielerisch aufgehoben ist, was später mit Anstrengung, Disziplin, Mut, mitunter Gewalt erkämpft werden muss.

Ligia Lewis und ihren Mitperformern gelingt eine faszinierende, intensive, nicht immer leicht zugängliche Betrachtung menschlichen Selbstbehauptungswillens und menschlicher Kreativität. Mit genauem Blick schaffen sie ein Panorama von Lust, Stolz, Kraft, Begehren, Verletzung und Gewalt.