42 Stunden Tanzplattform

Kategorie
Aktion

Vier Stücke, zwei Assemblys, unendlicher Input. Der positive Wahnsinn einer Tanzplattform. Von Ausruhen ist keine Spur, der Tag gleicht einem Marathon des Sehens. Zu Recht – die spannenden Stücke und das Rahmenprogramm verpflichten zum Dauereinsatz. Bloggerin Patricia Knebel hat sich mitten rein gestürzt und dokumentiert ihre ersten 42 Stunden Tanzplattform.

 

Von Patricia Knebel

Mittwoch, 18 Uhr. Die TPF wird offziell eröffnet. PACT-Leiter Stefan Hilterhaus und die beiden Produktionsleiter André Schallenberg und Sophie Osburg beginnen die „Zeremonie“ mit einer schier endlosen Aufzählung der Namen derer, denen gedankt werden soll, weil sie zum Funktionieren des Festivals beigetragen haben. Puh, echt jetzt? Der Geist schweift ab, der Hunger meldet sich. Aber dann denke ich: Gar nicht dumm, die Danksagung derart auszuweiten und das, noch bevor die ganze Veranstaltung überhaupt angefangen hat. Jetzt ist das Publikum noch gespannt, hört zu. Es ist sinnvoll, einmal transparent zu machen, welch Kraftakt ein solches Festival ist. Und wie viele Menschen zu seinem Erfolg ihren Beitrag leisten. Das Ausmaß in Zahlen: das Kern-TPF-Planungsteam besteht aus einer Hand voll Mitarbeitern, im Festivalzeitraum hat es sich auf über 100 Menschen aufgeblasen, die bis einschließlich Sonntag Schweiß und Nerven lassen. Der Eröffnungsabend geht weiter, zwischen Solo-Werken für Schlagzeug von Xenakis und Poppe, vorgetragen von Dirk Rothbrust vom Ensemble Musikfabrik, schlängeln sich die offziellen Reden von Stadt, Land, Bund. Die Rede ist vom „Betrunkensein“ ob der reichen Tanzszene im Ruhrgebiet und der wichtigen Bedeutung der TPF für Essen und Umgebung. Alle freuen sich. Applaus. Dann schnell raus, Häppchen und Getränke warten. Das „Flying Dinner“ bekommt hier eine ganz neue Bedeutung: fleischlastige Snacks fliegen nur so an mir vorbei. Kommt doch mal ein Tablett in meine Reichweite, ist es leer. Mit knurrendem Magen geht es rüber zu PACT. 20 Uhr. Ich sitze in The Way You Look (At Me) Tonight. Das Notizbuch liegt auf meinen Oberschenkeln, der Stift ist gezückt, denn ich werde eine Kritik über den Abend schreiben. Zwei Stunden voll intensiver Momente, Achtsamkeit, ein langsam erzählter, sensibler Bericht über das vermeintliche „Anderssein“. Emotional aufgewühlt, sehne ich mich nach nach Ruhe und keinen weiteren sinnlichen Reizen. Für den Late-Night-Talk reicht die Kraft heute leider nicht. Der Kopf ist voll, die Augen ermüdet. Donnerstag, 0.30 Uhr Schnell ins Bett, Augen zu, die Nacht wird nicht lang.

Donnerstag, 7 Uhr Die Presslufthammer auf der Baustelle nebenan wird angeschmissen. 7.30 Uhr Auch der Wecker sagt, dass ich aufstehen muss. Ich bin noch müde, trotzdem schwirren die Gedanken sofort um das Stück von Claire Cunningham und Jess Curtis. Schnell einen Kaffee gemacht und an den Laptop. Ich mache die Augen zu, versetze mich in den vergangenen Abend, lasse die Ereignisse Revue passieren. Dann fließen die Wörter. 9 Uhr Der Text ist fertig. Schnell duschen, frühstücken, los zu PACT. 11.30 Uhr Redaktionssitzung. Ich treffe die anderen Blogger*innen, wir erzählen uns von vom gestrigen Abend, geben Feedback zu den am Morgen verfassten Texten. 11.15 Uhr Hinüber ins Sanaa-Gebäude, da läuft das erste Assembly-Treffen. Thema heute: Körper und Neue Technologien. Seit 10 Uhr sitzen die Teilnehmer*innen schon zusammen, als ich vorbeischaue, findet die Abschlussdiskussion und Ergebnispräsentation statt. Für einen tieferen Einblick ist es zu spät. 13 Uhr Redaktionssitzung. Themen werden verteilt, der Redaktionsplan durchgesprochen, Beiträge online getellt. Gar nicht so leicht, eine ruhige Minute zum Schreiben zu finden, das PACT-Foyer ist wie ein summendes Bienennest. Aber mein Wunsch, möglichst viele Stücke bei der TPF anzuschauen, lässt nicht viel freie Zeit. 15 Uhr In Halle 12 sehe ich „Situation mit Doppelgänger“ von HAUPTAKTION. Der Raum, der gestern noch die Eröffnungsveranstaltung beherbergte, ist in eine Black Box verwandelt. In den kommenden 50 Minuten werden Fragen und Situationen kultureller Aneignung verhandelt, die beiden Performer Oliver Zahn und Julian Warner bespielen die Bühne allein, kommen ohne Requisiten aus, erzählen die Geschichte nur durch ihre tanzenden Körper und eine eingespielte, weibliche Erzählerstimme. Die Performance ist unaufgeregt, evoziert trotz des ernsten Themas zahlreiche Lacher auf Seiten des Publikums und entlässt mich mit vielen Fragen in den Nachmittag. Was genau ist eigentlich kulturelle Aneignung? Kann man Tanz für sich beanspruchen, Besitztum anmelden, Bewegung unerlaubt in das eigene kulturelle Repertoire übernehmen? Wie genau steht das Stück nun zu den Mechanismen kultureller Aneigung? Sollte sich die Debatte rund um die Dos und Don`ts entspannen oder ist genau das Gegenteil der Fall, kann man gar nicht kritisch genug sein? 17 Uhr Kurze Verschnaufpause bei PACT, nach einer halben Stunde geht es weiter zur Halle 12 und „Inoah“ von Grupo de Rua/Bruno Beltrao. Die Black Box hat dieses Stück mit „Situation mit Doppelgänger“ gemein, vielmehr aber auch nicht. Hier gibt es Tanz. Zehn männliche Tänzer spiegeln das urbane, brasilinische Leben wieder. Die Beleuchtung ist düster, die Musik grenzt bisweilen ans Unangenehme, zeitgenössischer Tanz trifft Street Dance, Hip Hop. Das Gefühl der Stadt „Inoah“ wird vermittelt über die jungen, starken, kraftvollen, nahezu aggressiven Körper. Das Stück strotzt nur so vor Männlichkeit und Testosteron. Eine gute Stunde voll austrainierter, perfekt agierender Körper und teils überfordernder Härte. Mir brummt der Kopf. Zurück zu PACT, um etwas zum Essen zu ergattern. 19 Uhr Rein ins Auto, weiter zum Aalto-Theater für „Kreatur“ von Sasha Waltz. Unterschiedlicher könnte die drei Speilorte des Tages nicht sein. Die beiden Stücke in den Hallen 5 und 12 auf Zollverein tragen trotz ihrer radikalen Unterschiedlichkeit beide die Geschichte des Ortes mit sich. Tanz oder Performance lässt sich nicht von harter Arbeit, Schmutz und Anstrengung des Bergbaus trennen. Nichts davon hallt im Aalto-Theater nach. Der Zauber rund um Oper, Ballett und klassische Musik ist in jeder Ecke des hellen Foyers spürbar, auch der Saal strahlt Eleganz und Klasse aus. Die minimale Gestaltung der Bühne finden wir auch bei diesem Stück. Die Bühne des Theaters wirkt unendlich groß, die Tänzer*innen sind trotzdem extrem präsent, gehen nicht verloren im weiten Bühnenraum. „Kreatur“ ist ästhetisch das Gegenteil von „Inaoh“, das Licht ist hell, geradezu gleißend, artifiziell. Künstlichkeit zieht sich durch das gesamte Stück. Die Tänzer*innen wirken wie unnatürliche Wesen, fast wie von einem anderen Stern, in einem anderen Kosmos agierend. Die Bewegungen sind vertörend, ungewöhnlich, trotzdem wunderschön, hyperreal, mitreißend. Die vierzehn Tänzer*innen fesseln die Blicke des Publikums 90 Minuten lang an sich, erschaffen utopische, dystopische Bilder von Körpern, Welt und Gesellschaft. 22 Uhr Was für ein Kontrastprogramm, die Bilder der Stücke schwirren ungeordnet in meinem Kopf herum, wollen sich ordnen. 24 Uhr Ich liege im Bett, erschöpft, zufrieden, voller Vorfreude auf den kommenden Tag – ein Wechselbad der Gefühle. Schnell schlafen, um morgen früh geistig wach zu sein für die Assembly um 10 Uhr.

Freitag, 10-12 Uhr. Assembly zum Thema „Art and its social Impact“. Die Moderatorin Susanne Traub kommt gehetzt zehn Minuten zu spät. Sie war noch in einen „Artist Talk“ verwickelt, lässt die Verspätung entschuldigen und spricht mir aus der Seele: „Mir ist eben das passiert, was für eine Tanzplattform völlig normal ist: Man muss rennen.“