Nackte Raubkatzen

Kategorie
Aktion

Nackte Raubkatzen

Xavier Le Roys "Temporary Title, 2015" ist als Ausstellung konzipiert. Die Besucher*innen können kommen und gehen, wann sie wollen. Also haben auch wir uns zu unterschiedlichen Zeiten auf den Weg ins Sanaa-Gebäude gemacht. Hier sind unsere Eindrücke dokumentiert.

 

Freitag, 18-19 Uhr

Von Laura Biewald


Der Fahrstuhl geht auf und ich betrete einen großen, grauen Raum. Betonwände, riesige Fensterfronten, zwei steinerne Quader mitten im Raum, grauer Teppichboden. Mein Blick fällt sofort auf die zahlreichen nackten Körper, die im ganzen Raum verteilt auf dem Boden sitzen, mal alleine, mal in Grüppchen mit anderen nackten oder bekleideten Körpern. Die Menschen, denen die Körper gehören, unterhalten sich angeregt miteinander. Für einen kurzen Moment bin ich starr. Wie soll ich mich jetzt verhalten?

Ich setze mich an den Rand des Geschehens und genieße die passive Position des stillen Beobachters, von der aus ich alles überblicken kann. Ich versuche zu selektieren: Wer ist Performer, wer Zuschauer? Wie kommt es, dass sich manche nackte Menschen mit angezogenen unterhalten? Worüber reden sie? Könnte ich mich dazusetzen? Will ich das überhaupt? Ich bleibe lieber erst einmal in der Distanz und studiere die Bewegungsabläufe der Tänzer*innen. Geschmeidig wie Raubkatzen laufen sie auf allen Vieren in diagonalen Linien über den Boden, mal aufeinander zu, mal aneinander vorbei. Wenn sie sich begegnen, lehnen sie auch schon mal ihren Kopf an die Schulter der/des anderen und stupsen ihre Stirn dagegen. Ihre Nacktheit ist dabei selbstverständlich. Es ist, als beobachtete ich das Sozialverhalten von Tieren. Gleichzeitig entspanne ich mich bemerkenswert schnell. In all dem Festivaltrubel, der Hektik und Lautstärke stellt dieser Ort eine Ruheoase dar.

Die animalischen Gebärden der nackten Körper wechseln sich ab mit verschiedenen Gruppenchoreografien, die sich aus Bewegungswiederholungen gestalten, in denen den geschmeidigen Gesten etwas Mechanisches und Skulpturales hinzugefügt wird. Je länger ich den immer wiederholten Abläufen zusehe, desto ruhiger werde ich und bemerke, dass ich selbst zu einem skulpturalen Körper erstarre und mich somit mehr und mehr meinem Umfeld anpasse. Ich werde unverhofft Teil des Ganzen, aber immer noch in der Position, von der aus ich zusehen und geschehen lassen kann.

„Hello, my name is Jorge, can I ask you a question? “ Meine Aufmerksamkeit wird abrupt herumgerissen zu einem nackten Mann, der aus der Mitte des Raumes eine an der Wand sitzende Zuschauerin adressiert. Auf ihre Zustimmung hin stolziert der Mann wie ein Löwe – in der Vierfüßlerposition, die Schulterblätter nach oben gezogen, die Hände wie Tatzen zu halben Fäusten geballt -  in diagonaler Linie auf die Frau zu, lässt sich auf sein Hinterteil fallen, nimmt eine lockere Haltung ein und beginnt, mit der Frau zu plaudern. Worüber sie reden, kann ich leider nicht hören. Die Raumakustik schluckt ihre Worte. Ich warte darauf, selbst von jemandem angesprochen zu werden, wechsle sogar meine Position im Raum, aber leider findet keine Begegnung mit einem Menschentier statt. Bis auf einen Beinahe-Zusammenstoß mit Xavier Le Roy, dem Choreografen des Werks selbst, der an der Wand entlang auf mich zugekrabbelt kommt. Ich scheine in seiner Laufbahn zu stehen, trete einen Schritt zur Seite, um ihn nicht aufzuhalten. Aber er scheint mich gar nicht zu bemerken, kriecht weiter zu einem auf dem Boden liegenden Kleiderhäufchen und zieht sich an.

 

Samstag, 15-18 Uhr

Von Thomas Maly

Gleich nachdem ich die nackten Menschen bemerke – aneinander liegend wie ein Rudel in der Savanne – fällt mir die Stille auf. Ich überfliege die Reihe von Besucherinnen und Besuchern, wie sie sich im weiten Kreis und viele von ihnen an die Wände des Raumes gelehnt um das Rudel gesetzt hatten. Es ist eine stille Anspannung. Erwartung liegt in der Luft. Diese Stille hält an, solange das Rudel beieinander liegt.

Dann recken sich die Entkleideten, trotten nach und nach auf allen Vieren auseinander. Sie bleiben vor Menschen oder kleinen Grüppchen stehen, stellen sich vor und fragen nach Einverständnis, jenen Personen eine Frage stellen zu dürfen. Niemand verneint.

Und dann fällt mir erneut Stille auf. Diese Stille ist Ruhe. Die nicht angesprochenen Menschen horchen, aber sie können nicht hören, was mit den Entkleideten gesprochen wird. Wird überhaupt gesprochen? Es dauerte ein wenig, dann beantwortet ein leises Zischeln zwischen den Grüppchen diese Frage. Und dieses Zischeln wird immer ausgelassener, bald murrt es im ganzen Raum, ein vereinzeltes Lachen ist zu hören.

Lange hält dieses Murren aber nicht, weil sich die Entkleideten verabschieden und wieder auf allen Vieren durch den Raum trotten. Einige von ihnen bekleiden sich, andere nehmen die Kleider ab. Und wieder ist Stille...

Da höre ich, wie der Wind an diesem verschneit stürmischen Tag am Gebäude entlang pfeift und denke an die nackten Körper, die ich sah.

 

Samstag, 16.15-17.45 Uhr

Von Patricia Knebel

Der lichtdurchflutete 1. Stock des Sanaa-Gebäudes mit seinen großen Fenstern, vor denen am heutigen Samstag die Schneeflocken tanzen, ist Performance-Fläche für etwa 15 nackte Menschen. Die einen sitzen, liegen, räkeln sich in Grüppchen in der Mitte des Raumes, die anderen sitzen einzeln im Gespräch mit einem oder mehreren Zuschauern. Wenn sie sich durch den Raum bewegen, krabbeln die Performer auf allen vieren, geschmeidig und wendig wie Panther. Diese Assoziation verunsichert mich, ich fühle mich wie ein Gaffer im Zoo. Nackte Körper werden ausgestellt, konsumiert. Aber diese Nacktheit wirkt asexuell, das Hinsehen ist nicht unangenehm. Nur bei einer Performerin muss ich mich länger an den Anblick gewöhnen. Sie ist schwanger. Wenn ich ihren Körper ansehe, fühle ich mich als Voyeurin, warum, das weiß ich nicht. Neben dem Eindruck des unerlaubten Hinsehens, macht sich noch ein anderes Gefühl breit: Ekel. Mitleid empfinde ich für die Performer*innen, weil sie sich über den nicht mehr neuen Teppichboden bewegen müssen, auf dem das Publikum mit Straßenschuhen läuft. Das Bild der Zootiere wird weiter gestärkt. Erst nach einer Weile fällt mir auf, dass einige Performer*innen hinzukommen, andere verlassen die Szene. Dieses selbstgewählte Kommen und Gehen macht eine neue Bedeutungsebene auf: Wir sehen eine körperliche Wandelausstellung, die Exponate kuratieren sich quasi selbst. Sie entscheiden, wer die Ausstellung in einem bestimmten Moment präsentiert.

 

Samstag, 16.45-17.30 Uhr

Von Matthias van den Höfel

Als Raubkatzen bewegen sie sich durch den Raum. Nicht nur das wiegende, gegenläufige Auf und Ab der Schultern, das leichte Rotieren des Beckens übernehmen sie; auch das Sitzen, das Sich-fallen-lassen zur Seite, die Bewegung im Rudel, der ruhige Blick in die Ferne gleicht dem von Großkatzen. Dass sie dabei nackt sind, fügt sich problemlos ins Bild, und nur im allerersten Moment verblüfft die gänzlich entsexualisierte Atmosphäre; auch später, während sie ineinander verschlungen eine Formation bilden, die an Grashalme im Wind und Algen in der Strömung erinnert, entsteht eher der Eindruck, dass hier Nicht-Nacktheit viel unpassender wäre – eine Erinnerung daran, dass es so etwas wie Bekleidung im nichtmenschlichen Bereich gibt, und dass umgekehrt nur unsere eigene Nacktheit nicht immer, aber sehr oft sexualisiert wird, gerade auch, wenn sie mit Nähe zu anderen Menschen einhergeht.

Faszinierend ist, wie sich aus der Ruhe der Bewegungen, der entsexualisierten Nacktheit und dem gedämpften, weiten Raum des Sanaa-Gebäudes eine Entspanntheit und Stille einstellt, die sich auf die Gespräche, welche die Performer*innen immer wieder mit Einzelnen aus dem Publikum suchen, zu übertragen scheint. Oft kann man ein leises Lachen hören, auf den Gesichtern ein offenes, strahlendes Lächeln beobachten. Sicher zeugt beides zum Teil auch von der Erleichterung, die sich bei den Einzelnen aus dem Publikum einstellt, wenn sie feststellen, dass das Gespräch mit einem fremden, nackten Menschen (und dann auch noch unter den Augen vieler anderer) nicht so unangenehm, peinlich und schambesetzt ist, wie sie es vielleicht befürchtet hatten. Vor allem aber werden diese Gespräche zu einer organischen Fortsetzung dessen, was Körper, Bewegungen und Stille längst begonnen haben: ein Panorama großer Ruhe und intensiver Lebendigkeit.