Nachdenken, bitte!


by Natalie Broschat

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Programme

Nachdenken, bitte!

Zur Tanzplattform Deutschland 2018 in Essen sind 13 sehr unterschiedliche Arbeiten eingeladen. Unter ihnen sind auch Must-haves, vor allem aber wegweisende, moderne und teilweise künstlerisch-abstrakte Bewegungsbilder. Blog-Autorin Natalie Broschat hat sich die Auswahl genauer angeschaut.

Von Natalie Broschat

Müsste man Überbegriffe für die diesjährige Tanzplattform Deutschland finden, wären diese museal, forsch und forschend. Die eingeladenen Choreografien dringen tief in ihre Themen ein, die Schauplätze sind Museen oder die Inhalte fürs Museum bestimmt. Was das Publikum mitbringen sollte, ist nicht nur ein großes Interesse am sich selbst in Frage stellenden und ausprobierenden zeitgenössischen Tanz, sondern auch ein ausgeprägtes Denkvermögen. Es ist zugleich eine Forderung an das Publikum, sich nicht nur berieseln und begeistern zu lassen. Doch das hat unsere moderne Kulturgesellschaft ja eh an sich: dass sie es niemandem leicht macht mit der Kunst, die sie hervorbringt. Was in den letzten zwei Jahren geschehen ist in der „Welt des Tanzes“, das präsentiert die Tanzplattform 2018. Sie ist „ein Versuchsfeld aktueller Strömungen in Choreografie, Tanz und Performance mit internationaler Strahlkraft“.


Was ist denn alles Prägnantes in den letzten beiden Jahren (2016 und 2017) passiert? Nun ja, sehr viel Schlechtes und noch viel Schlimmeres. Terror, Flüchtlingskrise, Kriege, Tode, Europa im traumatischen Taumel, Trump, eine sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich, alters- und bildungsunabhängige Politikverdrossenheit und natürlich immer mehr Angst. Und wie spiegeln die ausgewählten Werke zur Tanzplattform dies wieder? Oder wie haben sie beispielsweise schon dagewesene, historische und sich nun wiederholende Aspekte eines feindlich gestimmten, menschlichen Miteinanders bearbeitet? Wie haben sich die KünstlerInnen mit dem ganzen Schlamassel auseinander gesetzt?


Mit synchronem, nachahmendem Tanz beispielsweise, der humorvoll mit schwierigen Themen umgehen kann. Die immer noch hochaktuellen Themen Faschismus und Rassismus beschäftigt das Münchner Kollektiv  HAUPTAKTION, das aus dem Nachwuchsregisseur Oliver Zahn, dem Ethnologen Julian Warner und etlichen weiteren jungen Denkern besteht. Sie erforschen in ihrer „Situation mit Doppelgänger“ den Umgang von Weißen mit Schwarzen, von Mächtigen mit Schwachen, genauer gesagt mit deren Bewegungsschatz. Längst überwunden? Pah, man denke nur ans Twerken. Wem gehört ein Tanzstil und was passiert, wenn sich Weiße die Stile von Schwarze aneignen? Oliver Zahns Arbeiten sind allesamt Essayperformances, Versuche, Recherchen, die Themen ausloten und auch mal stehen lassen. Ein bisschen können sich HAUPTAKTION so aus der Verantwortung ziehen, doch gehen sie Themen an, die wichtig und historisch diskutabel sind. Sie sind quasi das Must-have unter den Nachwuchskünstlern, deren Essayperformances sich zwischen klassischem Theater, Tanz und Lecture-Performances bewegen.


Mit dem Schwarzsein, mit dem Zu-einer-Minderheit-zugeschrieben-Sein beschäftigt sich auch die hochgelobte Choreografin Ligia Lewis in „minor matter“. Woraus besteht der Mensch wirklich, wenn all die Äußerlichkeiten abgelegt oder weggetanzt sind? Wie derb findet eine gesellschaftliche Zuschreibung von Aspekten zu einer bestimmten Gruppe statt? Ein Thema, das ebenfalls Eisa Jocson interessiert. Sie setzt sich maßgeblich und ausgiebig mit ihrem Heimatland, den Philippinen, auseinander. In „Princess“ befinden sich zwei PerformerInnen auf der Bühne und verhandeln synchron Ähnliches wie HAUPTAKTION und Lewis. Wie geprägt sind die Philippinen durch die amerikanische Kolonialherrschaft und was macht das mit den Menschen dort? Wie ist ihr Blick auf die Welt? Leben sie weiterhin in Unterdrückung? Die professionellen TänzerInnen auf den Philippinen sind von diesen Umständen keinesfalls verschont geblieben, ganz im Gegenteil. „The American Way of Life“ und vor allem „The American Way of Unterhaltung“ diktieren Teile der philippinischen Arbeitswelt, man muss sich angleichen. Beispielsweise im Disneypark, in dem viele PhilippinerInnen arbeiten und Märchenfiguren mimen, obwohl sie nicht in die dort vorgegebenen Schönheitsideale passen. Doch gegen das Diktat der Arbeit, die amerikanischen Standards und Vorstellungen genügen will, kommt man nicht an. Eisa Jocson klagt forsch an, und das seit einiger Zeit unglaublich erfolgreich.


Ebenso erfolgreich ist der amerikanische Choreograf Richard Siegal mit seiner neu gegründeten Kompanie Ballet of Difference. So heißen sie, weil die TänzerInnen allesamt speziell, besonders, einzigartig sind und einen stattfindenden Wandel in einer genormten Gesellschaft markieren. Bei der Tanzplattform sind sie mit ihrem ersten Stück „BoD“ zu Gast; außerdem zeigen sie ihre neue Arbeit „Ballet 2.018“, das im Februar seine Premiere hat. Das Ballett of Difference erforscht Räume mit klassischen Ballettelementen und modernen Tanzströmungen und zeigt so, dass beides Hand in Hand gehen kann. Ähnlich wie Brit Rodemund und Christopher Roman, die in „Catalogue (First Edition)“ beweisen, dass Tanz auch über bestimmte Altersgrenzen und Falten hinweg ästhetisch ist. Von William Forsythe wurde dieses Stück für das DANCE ON  ENSEMBLE entwickelt und setzt ein Zeichen im sich um Makellosigkeit drehenden Tanz.


In der Pressemitteilung heißt es, dass „für die Tanzplattform 2018 ein Programm entwickelt wurde, das einen Resonanzraum für die drängenden Fragen unserer Zeit bildet. Die ausgewählten Produktionen feiern die emanzipatorische Kraft des Tanzes und der Choreografie, die Diversität von Körpern und Identitäten. Sie stehen für viele andere choreografische Arbeiten, die sich in den letzten zwei Jahren in Deutschland mit drängenden ästhetischen, gesellschaftlichen und existentiellen Anliegen auseinandergesetzt haben und zu Perspektivwechseln einladen.“


Wie Sasha Waltz beispielsweise. Von ihr hört man momentan natürlich viel, Berlins Kulturlandschaft sei Dank. Dort gründete sie die Spielstätte für freies Theater, Sophiensaele, und ab 2019 übernimmt sie mit Johannes Öhman die Leitung des Staatsballetts Berlin. Dagegen lehnt sich die halbe Stadt auf, ähnlich wie bei Chris Dercon und der Volksbühne. Sasha Waltz präsentiert ihre Arbeit „Kreatur“, in der es um Krieg, Flüchtlingsströme, Terror geht. Ganz 2016/2017 und zeitgemäß zeitlos also. Waltz sagt selbst, dass es ein düsteres Stück geworden ist; dazu passend die eigens dafür entworfenen und ebenso düsteren Kostüme der Modedesignerin Iris van Harpen. Und hier schließt sich eine erste Schlaufe, denn die Art zu arbeiten, die Sasha Waltz früher betrieben hat und als ultimativ anpreist, ist genau die, die nun HAUPTAKTION zelebrieren: das kreative Forschen. Die junge Generation arbeitet also wie die alte es früher auch getan hat. Methoden werden übernommen, ein natürlicher Lauf der künstlerischen Dinge vorangetrieben.


Einen ästhetischen Perspektivwechsel ruft auch die britische Künstlerin Claire Cunningham hervor. Sie ist körperlich behindert, kann nur mithilfe von Krücken gehen und ihre choreografische Arbeit konzentriert sich auf diese. Die Krücken sind ihr Tanzpartner. Mit und durch sie lebt sie und hat mit ihnen schon den Kosmos des niederländischen Malers Hieronymus Bosch auf der Bühne erkundet. In „The Way You Look (at me) Tonight“ widmen sie und Jess Curtis sich der Frage, ob es möglich ist, sich von Blicken frei zu machen, die Umgebung auszublenden und nur im Moment, im Hier und Jetzt zu leben und zu sein. Das interessiert auch die CocoonDance Company aus NRW, die in „MOMENTUM“ bis zur Erschöpfung tanzt und sich eben diesem tänzerischen Moment vollkommen hingibt.


Der Brasilianer Bruno Beltrão erforscht mit seiner Grupo de Rua in „Inoah“ urbanes Leben in all seinen Facetten. Wie lebt es sich in der Metropole und wie verändern wir uns dadurch? Das theatercombinat unter der Leitung der deutschen Choreografin Claudia Bosse guckt sich mit „the last IDEAL PARADISE“ ebenfalls das aktuelle, gesellschaftliche Leben in Zeiten arger Umbrüche genauer an. Das Stück entstand in Wien und nahm sich der Stadt an, doch funktioniert überall. Wir leben in einer Zeit, in der viele Gesellschaftsschichten von Unsicherheit geplagt sind oder gleich ganz zu verschwinden drohen. Und immer haben alle Angst. Die Recherche und die Nachforschungen für „IDEAL PARADISE“ begann Bosse im Weltmuseum Wien, die Inszenierung wanderte dann durch die Stadt und wurde nach zweijähriger Arbeit in Düsseldorf zu „the last IDEAL PARADISE“ ausgebaut.


Eine lange Forschungsphase hat auch Eszter Salamon für ihr „Monument 0.5: The Valeska Gert Monument“ hinter sich. Das Monument über die deutsche Kabarettistin, Tänzerin und Schauspielerin Valeska Gert ist ein Denkmal im wahrsten Sinne geworden, ein musealer Akt. Wie auch das als Ausstellung angelegte „Temporary Title“ des Franzosen Xavier Le Roy, das sich in Dauerschleife abspielt. Über fünf Stunden können die BesucherInnen immer wieder zur Performance zurückkehren und sich die nackten TänzerInnenkörper angucken, mit ihnen in Konversation treten, sich für die Rezeption Zeit nehmen und lassen. Zeit braucht auch „10.000 Gesten“ von Boris Charmatz, Direktor des mobilen Musee de la dance, der seine Arbeiten bereits in der Tate Modern in London zeigen durfte. Dort hat er wahrscheinlich Chris Dercon kennengelernt, der diese bis vergangenes Jahr leitete und nun die Volksbühne übernommen hat. Charmatz kam die Ehre zuteil, die neue Spielzeit im September zu eröffnen, mit gleich drei Stücken. Zur Tanzplattform ist er mit seiner zweiten Arbeit dieses Tanz-Festes eingeladen, in der es über einen langen Aufführungszeitraum darum geht, sich nicht zu wiederholen. Die kraftvolle, ephemere Kunstform Tanz wird hier also ins Extrem getrieben und bleibt durch die Form der Darstellung ebenso nachhaltig und museal.


Ein cleverer Schachzug des ehemaligen Museumskurators Chris Dercon, seine Amtszeit an der Berliner Volksbühne mit dieser Arbeit zu beginnen. Er zeigt so, dass das Museum den darstellenden Künsten in keiner Form hinderlich ist, ganz im Gegenteil, eher zuträglich. Denn das für die Ewigkeit bestimmte Museum und der zum Verweilen einladende, museale Ort als Raum für den ephemeren Tanz passen ganz hervorragend zusammen. Vielleicht sollten sich viel mehr theatrale Spektakel im Museum abspielen, denn dort kann man sich frei bewegen, reden, mit Blicken kommunizieren und sich sofort austauschen über Gesehenes oder Unverstandenes.


Die Tanzplattform Deutschland zeigt am Beispiel herausragender Tanzstücke und Performances das auf, was im Großen in der Kulturlandschaft und im noch Größeren in der Gesellschaft passiert: Unsere moderne, westliche Welt ist momentan abstrakt, aufgeladen und voller Umbrüche.  Und in all den verhandelten Themen unserer Zeit oder aus der Vergangenheit, seien sie noch so schrecklich, steckt natürlich auch reine Schönheit. Was das Programm außerdem zeigt, ist, was man trotz allem nie aufhören sollte zu tun: nachdenken.