Tanz. Wissen. Schafft.


by Julia Bieber

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Diskurs

Tanz. Wissen. Schafft.

Schafft Tanz Wissen? Bloggerin Julia Bieber hat sich mit der Tanzwissenschaftlerin und Jurorin der aktuellen Tanzplattform Leonie Otto über das Verhältnis von Tanz und Wissenschaft unterhalten. Auf dem Campus der Universität Frankfurt diskutierten sie unter anderem, ob und wie choreographische Arbeiten eine andere Form des Denkens ermöglichen.

von Julia Bieber

 

Schafft Tanz Wissen? Darüber möchte ich mich mit der Tanzwissenschaftlerin und Jurorin der aktuellen Tanzplattform Leonie Otto unterhalten. Und besuche sie also in ihrem Büro auf dem Campus der Goethe-Universität Frankfurt. Auf dem neuen Westend Campus gibt es im ehemaligen IG Farben Gebäude in jedem Gebäudetrakt Pater Noster, damit die Studierenden auch zügig die Etagen wechseln können. Also springe auch ich in die nächste freie Holzkiste. „Weiterfahrt durch Keller und Dach ist ungefährlich“, lese ich. Das ist erleichternd, aber ich steige bzw. springe ohnehin wie geplant im sechsten Stock wieder raus.

Leonie Otto wartet schon auf mich in ihrem Büro. Das Semester hat gerade geendet und damit auch das Seminar zur Vorbereitung auf die Tanzplattform, das Leonie Otto geleitet hat. 26 Studierende seien regelmäßig dabei gewesen. Das Interesse unter den Studierenden am Tanz ist also groß. Wobei die Vorkenntnisse und Hintergründe der Teilnehmer*innen durchaus variierten: Einige hatten bereits viele Erfahrungen durch Praktika oder als Produktionsleitung gesammelt, für andere war das Seminar die erste Berührung mit zeitgenössischem Tanz.

Auf dem Lehrplan standen deshalb erstmal die grundsätzlichen Fragen. Die Studierenden sollten sich beispielsweise mit den Strukturen der „freien Szene“ vertraut machen. Es wurden aber auch für die Tanzplattform bedeutsame theoretische Debatten zum Thema „Anthropozentrismuskritik“ und „Körperpolitiken“ reflektiert, berichtet sie mir. Neben diesen theoretischen Fragen hätten die Studierenden natürlich auch gemeinsam Stücke geschaut und darüber gesprochen, wie „Tanz“ analysiert werden kann – und welche Probleme dabei oft auftreten.

„Feldforschung“ und Austausch

Die Vernetzung zwischen Hochschulen mit tanzwissenschaftlichen Studiengängen ist ein wichtiger Bestandteil des Rahmenprogramms der diesjährigen Tanzplattform. Leonie Otto engagiert sich viel für den universitären Austausch. Letzte Woche erst war sie wieder bei PACT für ein vorbereitendes Treffen zwischen den Studierenden der Universitäten Bochum und Gießen. Hier allerdings in der Funktion des Jurymitglieds.

Als Tanzwissenschaftlerin schlägt Leonie Otto innerhalb der Jury die Brücke zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Praxis. Sie ist angestellt als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaften der Uni Frankfurt und hat vor kurzem hier ihre Doktorarbeit abgeschlossen. Gleichzeitig ist sie als Dramaturgin immer wieder in künstlerische Arbeitsprozesse involviert.

„Denken im Tanz“

In ihrer Doktorarbeit hat sich Leonie Otto mit der Debatte zu „Denken im Tanz“ auseinandergesetzt. Und dies am Beispiel der Choreographien von Laurent Chétouane, Philipp Gehmacher und Fabrice Mazliah bzw. der Forsythe Company untersucht. Aber „Denken im Tanz“ – ist das nicht ein Widerspruch? Warum also gerade dieses Thema? Und was verbirgt sich hinter dieser Debatte, will ich wissen. „Seit Anfang der 00er Jahre wurde es zu einem großen Thema in der Tanzwissenschaft. 2006 gab es beispielsweise einen Tanzkongress zum Thema ‚Wissen in Bewegung’. Aber zum anderen kam es auch aus meinen Seherfahrungen. Diese Debatten waren wichtig, um überhaupt erstmal anzuerkennen, dass es so was wie ein körperliches Wissen oder ein inhärentes Wissen gibt“, erzählt Leonie Otto mir. „Aber was mir bei diesen Diskursen um das ‚Wissen der Künste’ oder um das ‚Wissen des Tanzes‘ fehlte oder was ich problematisch fand, ist, dass es dabei immer noch um eine Produktion von Wissen geht. Also dass es ergebnisorientiert ist.“

In der westlichen Philosophie wird „Denken“ oft als ein teleologischer, also zielgerichteter, Prozess verstanden, der irgendwann zu positivem Wissen und Erkenntnissen führen soll. „Aber wenn man die Stücke von Laurent Chétouane oder William Forsythe anschaut, dann geht es hier erst mal um den Prozess und da waren mir Theoretiker*innen wichtig wie Hannah Arendt und Martin Heidegger, die betont haben, dass lange Zeit das Denken zu einfach verstanden wurde.“ „Denken“ nach dieser philosophischen Lesart sei nämlich erstmal ergebnisoffen und versuche, kritisch zu hinterfragen. „Mir geht es also nicht darum zu fragen ‚Was haben die Tänzerinnen auf der Bühne gedacht?‘ oder „Was war das Ergebnis des Denkens in dem Stück?‘“. Aber worum geht es ihr dann?

Blick ins TPF-Programm

Weil das alles sehr spannend, aber doch abstrakt klingt, schlagen wir beide unsere Programmhefte zur Tanzplattform vor uns auf. In welchen Stücken, die im März bei PACT zu sehen sein werden, findet dieses „Denken“ im Tanz statt, frage ich.

„Das ist schwer zu sagen, weil ich ein ganz bestimmtes Verständnis von ‚Denken’ habe. Aber was ich meine, oder wie ich es in meiner Doktorarbeit erarbeitet habe, sind Stücke, die nicht mit einer völlig festgeschriebenen Choreographie arbeiten. Das heißt auch nicht, dass unbedingt improvisiert wird, aber ich meine damit, dass die Choreographie nochmal denkend mitvollzogen wird. Ich sehe das beispielsweise in dem Stück ‚Catalogue (First Edition)‘ das William Forsythe mit dem Dance On Ensemble erarbeitet hat. Oder auch in der Installation von Xavier Le Roy und in gewisser Hinsicht auch bei Claudia Bosse“.

Aber heißt das, in den anderen Stücken wird nicht gedacht? Ja und nein. „Wenn wir uns im Unterschied die Stücke ‚Situation mit Doppelgänger’ von Julian Warner und Oliver Zahn oder ‚The way you look (at me) tonight’ von Claire Cunningham und Jess Curtis anschauen, dann würde ich sagen, in diesen Stücken geht es sehr stark auch um ein Denken im Tanz.“ Mein soziologisches Ich nickt heftig zustimmend. Immerhin werden in diesen Stücken gesellschaftlich und politisch sehr komplexe Themen verhandelt. Wem gehört der Tanz? Für welche Körper bietet der zeitgenössische Tanz einen Raum – sowohl auf der Bühne und als auch im Publikum? Claire Cunningham fragt in ihrem Stück, wie körperliche Beeinträchtigung die Zugänglichkeit zu zeitgenössischem Tanz erschwert oder unmöglich macht. Im Stück von Julian Warner steht wiederum die kulturelle Aneignung von Schwarzen Tanzkulturen im Fokus. In beiden Stücken geht es also ganz zentral um die Analyse und Kritik von Machtverhältnissen im Tanz. Für mich haben diese Stücke sehr viel mit Denken zu tun. Wo sieht Leonie Otto also den Unterschied?

Sicht der Tanzwissenschaftlerin

„Ich glaube, der Unterschied besteht für mich darin, dass diese beiden Stücke etwas entwickeln, was schon die Ergebnisse einer diskursiven Recherche einbezieht, also das, was gemeinhin als ein theoretisches Wissen bezeichnet wird“. Das sei deshalb nicht besser oder schlechter, aber Leonie Otto sieht bei diesen Stücken einen anderen Zugang zum „Denken“, einen, der stärker etwas zu vermitteln sucht, auch auf einer inhaltlichen Ebene, wohingegen die Stücke von Le Roy und Forsythe sehr formal und abstrakt blieben und eher ein prozesshaftes, ergebnisoffenes „Denken“ auf der Bühne ermöglichten.

Hat Leonie Otto durch ihre Nähe zur Wissenschaft einen anderen Blick auf Tanz als die anderen Jurymitglieder? „Ich brauche normalerweise sehr lange für die Reflexion über ein Stück. Für meine Promotion habe ich einige Stücke über zwei Jahre mit mir rumgetragen. Außerdem schaue ich stark nach Zusammenhängen“. Die Jurymitglieder haben sehr verschiedene Hintergründe und Bezüge zum Tanz. Ihr sei zum Beispiel aufgefallen, dass Bruno Heyndrickx durch seine Tätigkeit als Kurator viel stärker darauf geachtet habe, wie ein Stück für ein Publikum funktioniert und wenn ja für welches. „Mit solchen Fragen habe ich wenig Erfahrung“.