Wer hat's erfunden?

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Debatte

Wer hat's erfunden?

Wem gehört Kultur? Diese Frage stellt das Münchner Kollektiv HAUPTAKTION, hier repräsentiert durch den Kulturanthropologen Julian Warner und den Theatermacher Oliver Zahn, mit ihrer Performance „Situation mit Doppelgänger". Bloggerin Laura hat sich das Stück angesehen und sich daraufhin näher mit der hitzig diskutierten Debatte um kulturelle Aneignung beschäftigt. 

 

Von Laura Biewald

1844 fand in den Vereinigten Staaten ein Wettbewerb statt, bei dem ein weißer und ein schwarzer Tänzer um den Titel des besten Tänzers ihrer Zeit gegeneinander antraten. Wer ist der authentischere schwarze Tänzer, lautete die absurde Frage damals, der „echte“ Schwarze oder sein Nachahmer. Julian Warner und Oliver Zahn setzen diese „Situation mit Doppelgänger“ als Rahmenhandlung für ihr gleichnamiges Stück und thematisieren damit eine aktuelle Debatte:  Immer lauter und zahlreicher werden in Medien und Gesellschaft empörte Stimmen über Kunst und Verhaltensweisen, die sich anderer Kulturen bedienen oder sich deren Attribute aneignen. Doch was genau bedeutet der Terminus kulturelle Aneignung? Eine Definition des Begriffs kann so wenig eindeutig sein, wie es die Debatte um ihn selbst ist. Vereinfacht gesagt, geht es um das Übernehmen bestimmter Merkmale einer kulturellen Gemeinschaft durch eine andere kulturelle Gemeinschaft. Das Problem an der Sache: Es ist gar nicht so leicht, das zu vermeiden.

Halloween, beispielsweise. Das Fest am 31. Oktober ist in Deutschland in den letzten zehn Jahren immer populärer geworden, dabei ist es doch ein typisch US-amerikanisches. Oder hat es seine Ursprünge nicht doch in Irland und wurde von den Kelten als jährliches Ritual zur Vertreibung der bösen Geister durchgeführt? Wem gehört dieses Fest nun? Wer hat es erfunden und wer hat es sich daraufhin angeeignet, wäre also folglich nicht legitimiert, es zu feiern?

Erst durch das Andere entsteht das Ich

Denn darum geht es in der Debatte um kulturelle Aneignung, zu Englisch „Cultural Appropriation“, auch: um die Frage nach der Legitimierung zur Nutzung. Dazu muss allerdings zuerst die Frage nach dem Ursprung und nach dessen Verortung geklärt werden, also nach derjenigen Personengruppe, die gewisse Merkmale als kulturelles Gut teilt und für sich beansprucht. Dabei liegt genau darin das Paradox dieses Diskurses: Erst durch die Abgrenzung einzelner ethnischer Gruppen, erst dadurch, dass zwischen schwarzen und weißen Menschen unterschieden wird, können diese Gruppen in Wechselwirkung zueinander stehen. Erst durch die Definition des Anderen entsteht das Ich. Erst durch eine schwarze Rassifizierung konnte eine weiße Normalisierung zu Tage treten. Und nun haben wir den Salat. Oder eher gesagt, verschiedene Salate, von denen laut Verfechter*innen des Cultural Appropriation-Ansatzes wie etwa die Autorin Hengameh Yaghoobifarah keine Zutat aus der einen Schüssel in die andere wandern darf.

Da stellt sich nun die Frage, ob eben das nicht eher den Rassismus schürt als ihn zu verhindern, gerade in der heutigen Zeit, in der die Angst vor Andersartigkeit immer mehr zunimmt. Müsste man sich in diesen Zeiten nicht eher für kulturelle Aneignung im Sinne einer Kulturvielfalt einsetzen? Zu unterscheiden sind ohnehin zwei Arten der Übernahme kultureller Zeichen: Zum einen die – entschieden zu kritisierende – Aneignung kultureller Merkmale einer Minderheit mit dem Ziel, diese zu verspotten und zu diskriminieren und zum anderen eine wohlwollende Solidarisierung und eine Achtung vor den kulturellen Errungenschaften anderer Kulturkreise.

Dürfen Weiße keinen Hip-Hop machen?

Der Blues beispielsweise ist ein Musikstil, der seinen Ursprung auf den Baumwollplantagen der amerikanischen Südstaaten hatte. Mitte des 19. Jahrhunderts schufen dort versklavte schwarze Afro-Amerikaner mehr oder weniger unfreiwillig ein neues Musikgenre, indem sie zum Rhythmus ihrer harten und eintönigen Arbeit auf dem Feld sangen. Überspitzt könnte man daraus schließen, dass der Blues der Sklaverei zu verdanken sei. „Verdanken“ deshalb, weil sich diese Musikform seit seiner Verbreitung nach Abschaffung der Sklaverei nicht nur unter Schwarzen größter Beliebtheit erfreut, sondern auch ein großes Kulturgut für die sogenannte westliche Welt darstellt, hat er doch Grundsteine für den Jazz, Soul und Funk und Rock’n’Roll gelegt.

Was heißt dies nun im Umkehrschluss? Dürfen Weiße keinen Jazz, Blues oder Hip-Hop machen? Natürlich wissen wir spätestens seit des hart erkämpften Erfolges des weißen US-Rappers Eminem in der von schwarzen Rappern dominierten Hip-Hop Szene, dass eine solche Aneignung ohnehin gar nicht so einfach ist. Ein Weißer, der versucht, sich in der vermeintlich schwarzen Musikszene zu behaupten, die immer schon versuchten, sich in der Welt der Weißen zu behaupten. Welch ein Irrsinn!

Und wozu die Mühe? Weiß, schwarz, dominant, anders: Das alles sind vom Menschen geformte Termini, von einem Wesen, der in seiner Vielfalt letzten Endes auf ein und dieselben Wurzeln zurückzuführen ist, auf ein und denselben Ursprung. Der Geist, der in der Bluesmusik steckt, steckt im Grunde sowohl in schwarzen als auch in weißen Menschen. Genau das ist der Grund, warum wir Blues mögen. Er klingt anders, aber doch bekannt. Und so ist es doch auch mit einem guten Freund. „Mir ist, als würden wir uns schon ewig kennen.“ Dieser Satz ist dem ein oder anderen vielleicht in einer romantischen Erzählung untergekommen, vielleicht aber auch bei einer ersten Begegnung mit einem anderen Menschen im eigenen Leben. Wir finden etwas gut, weil es uns irgendwie bekannt vorkommt. Würden wir es nicht (er)kennen, würde es uns Angst machen. Wäre es uns zu ähnlich, wäre es langweilig.

Dieselben Sehnsüchte und Instinkte

Und so sagt man auch den Minstrel-Shows des späten 19. Jahrhunderts in Nordamerika nach, dass sich diejenigen Frauen, die im Blackfacing-Aufzug zu den angeblich urtypischen afro-amerikanischen Rhythmen tanzten, insgeheim befreit fühlten und in diesem Das-Anderssein-Parodieren, endlich sie selbst sein konnten. Ein bemerkenswerter Umstand, der unterstreicht, dass wir alle dieselben Sehnsüchte, Instinkte, Triebe und Körperlichkeiten in uns tragen, und zwar unabhängig von Hautfarbe, Herkunft oder sozialem Status. Ist denn ein Schwarzer, der einen als afro-amerikanisch rassifizierten Tanz performt, in seiner Bewegungssprache authentischer als ein Weißer, der denselben Tanz tanzt? Wodurch entsteht Authentizität? In der fälschlich angenommenen Ursache, bestimmte Rhythmen und Gesten lägen den Afro-Amerikanern „im Blut“? Oder speist sich diese als Irrglaube entlarvte These aus sich selbst? Wo liegen die Grenzen? Wann lässt sich von Einverleibung, wann von der sogenannten und viel kritisierten kulturellen Aneignung sprechen? Und gibt es so etwas dann überhaupt, wenn man davon ausgeht, dass alle Spielarten der Kultur im selben Urgrund verwurzelt sind?

Kultur, aus welchen Umständen heraus sie auch entstanden sein mag, hat unsere Welt geprägt und wir prägen sie. Jeden Tag aufs Neue. Ein Wechselspiel, dem wir uns nicht entziehen können und bei dem es –   vor allen Dingen – keine Gewinner und keine Verlierer gibt. So wie in der „Situation mit Doppelgänger“ der Sieger des Tanzwettbewerbs bewusst nicht identifiziert wird.