Anders? Was ist das?

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Kritik

Anders? Was ist das?

So wuselig, so laut und so bevölkert hat man die ehemalige Waschkaue auf dem Gelände der Zeche Zollverein selten gesehen. Der Grund: Die Eröffnung der Tanzplattform mit gleich drei parallel laufenden Stücken. Bloggerin Patricia Knebel sah „The Way You Look (At Me) Tonight“ von Claire Cunningham und Jess Curtis und hat erlebt, wie Tanz und Bewegung aussehen können, wenn man „anders“ ist. Wobei – „anders“? Gibt es das überhaupt?

 

Von Patricia Knebel

Das Publikum im großen Saal von PACT Zollverein ist im ganzen Raum verteilt: Die Sitzplätze auf der Tribühne sind belegt, kleine Stuhlgrüppchen stehen auf der Bühne verteilt, dazwischen sitzt man auf Kissen auf dem Boden. Nur ein schmaler Streifen in der Mitte scheint als Spielfläche zu dienen. Beim Betreten des Bühnenraums werden wir von Jess Curtis begrüßt, man solle nach vorne auf die Bühne kommen, ein paar der besten „First Row Seats“ seien noch frei. Auch Claire ist schon da, wandert durch das Platz nehmende Publikum, eine klassische Aufführungssituation gibt es also nicht.

Als sich Claire und Jess mittig im Publikum auf der Bühne positionieren, ist klar, es geht jetzt los. Vom Ablauf und Inhalt der kommenden zwei Stunden erzählen die beiden: Die Show setze sich aus philosophischen Einspielungen, Gedanken von ihnen selbst und unterschiedlichen Sinnenmodalitäten zusammen; über allem kreist die Frage, wie Bewegung mit „anderen“ Körpern aussehen kann. Wir sehen zwei Performer, auffallend durch ihre grauen, weißen Haare, älteren Jahrgangs, keine „typische“ Tänzerfigur. Claire ist klein und zierlich, meist bewegt sie sich mit Krücken fort, ihr Körper ist „deformiert“. Welche Krankheit sie hat, erfahren wir nicht, wissen nur, dass sie seit 26 Jahren die Krücken zum Leben braucht. Jess sieht aus wie ein agiler, älterer Mann. Sein Körper scheint „gesund“ und „normal“, wir erfahren jedoch, dass er Arthritis und eine Hüfte aus Titan hat, die ihn vor allem in seinem Beruf als Tänzer einschränkt. Der Einsatz der Anführungszeichen in diesem Absatz macht den zentralen Aspekt des Stückes deutlich: Bereits nach den ersten zehn Minuten bin ich extrem verunsichert, was eigentlich „normal“ oder „gesund“ ist, wer solche Zuordnungen bestimmt und warum man einen Körper als „deformiert“ bezeichnet, wenn er bloß anders aussieht, als man ihn gewöhnlich kennt. 

Zum Hinsehen gezwungen

Das Gefühl des Anderssein wird zum Gesprächsthema. Claire berichtet, wie sie aus dem Augenwinkel auf der Straße wahrnimmt, wie die Leute sie anstarren, aber den Blick hastig abwenden, sobald sie zurückschaut. Wir aber sind zum Hinsehen gezwungen, so nah, wie wir ihnen sitzen. Wir sehen Claire und Jess an, manche von uns berühren sie sogar, wir werden dazu aufgefordert, uns mit ihren beiden Körpern auseinanderzusetzen, mit der Bewegung, die sie schaffen. Sie zeigen, wie Bewegung aussehen kann, wenn sie sie gemeinsam vollziehen: Claire und Jess liegen aufeinander und rollen sich gemeinsam über den Boden. Vielmehr rollt immer einer der beiden aktiv, der andere wird durch die Bewegung mitgezogen. Währenddessen berichten sie, was sie erleben. Wie es sich anfühlt, den Druck des anderen auf dem Körper zu spüren, wie es sich anfühlt, mitgezogen zu werden. Das Rollen der beiden wirkt wie eine virtuose Choreografie, wird zum Tanz der Körper, körperliche Einschränkungen spielen keine Rolle. Klar ist aber: Sie brauchen einander, um den Tanz zu vollführen.

Die Krücken werden zum Thema. Jess bekommt auch welche, Claire zeigt ihm, wie man sie am besten benutzt, welche Tricks es gibt, was man alles mit ihnen machen kann. Claire ist die Expertin, nicht ihr wird geholfen, sondern sie hilft Jess, sich mit den Krücken anzufreunden. Sie berichtet sehr ehrlich darüber, welche Bedeutung die Krücken in ihrem Leben und für sie haben. Dass sie lange Zeit dazu geführt haben, dass sie sich nicht als Frau, sondern als entsexualisierte Person gefühlt habe. Diese intimen Momente lassen mich schlucken, sind aber direkt gefolgt von Augeblicken, die unglaublich Spaß machen. Wenn Claire zum Beispiel Stunts mit ihren Krücken zeigt, mit ihnen tanzt, mit ihnen durch das Pubikum rennt, eine Pirouette tanzt mit ihnen, eine choregrafische Symbiose mit Jess und den Krücken eingeht.

Bitterkeit und Witz

Sie lässt sie aber auch mal bewusst stehen und erzählt, dass die Menschen verägert sind, wenn sie ohne Krücken läuft. So, als ob sie ja gar nicht so krank sei. Ein solcher Moment ist bitter, zutiefst traurig, steht im krassen Kontrast zu der sonst so leichtfüßigen Performance der beiden, dauert aber nicht lange an. „Pass auf, dass du nicht zu lange ohne Krücken läufst, sonst kriegst du keine Unterstützung von der Krankenkasse mehr“, neckt Jess. Das Publikum lacht. Solche Momente gibt es viele. Von sehr ernsten, bedrückenden Dingen berichten Claire und Jess, durch unglaublich viel Humor nehmen sie direkt danach die Bitterkeit.

Die Show endet mit einem von den beiden eingsprochenen Text, der wie eine Liebeserklärung an den anderen klingt. Die „Krückenskulptur“, die die beiden zuvor aufgebaut hatten, fasst den Inhalt gut zuammen: Beide sind eng ineinander ineinander verschlungen, stützen sich aufeinander, würden ohne den anderen umfallen. Ob sie ein Paar oder enge Vertraute und Freunde sind, erfahren wir nicht, es ist aber auch egal. Was sie uns verraten ist, dass das Geheimnis des Miteinanders Liebe, Vertrauen, Akzeptanz und Achtsamkeit ist. In jedem anderen Zusammenhang wäre das unglaublich kitschig gewesen, hier nicht. Der Moment reiht sich perfekt in die vergangenen zwei Stunden der Ehrlichkeit und Unmittelbarkeit ein.